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Krebs

Todkranker Melker will nicht um alles betteln müssen

Tornow / Lesedauer: 4 min

Hans-Joachim Obst weiß nicht, wie viel Zeit ihm noch bleibt. Dass der Tornower um Pflegegeld und Physiotherapie kämpfen soll, bedrückt ihn zusätzlich.
Veröffentlicht:08.09.2020, 10:27

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„Wenn wir als Kinder Sorgen hatten, sind wir immer zu 'Onkel Achi' gerannt. Der wusste stets Rat; hat uns geholfen, egal, wie groß das Problem war.” Wenn Franziska Krüger von ihrem Onkel erzählt, dann muss sie aufpassen, nicht gänzlich in die Vergangenheitsform zu verfallen. Die Kinderjahre der Pflegekraft (30) sind zwar schon vorbei. Aber den „Onkel Achi” gibt es ja noch, obgleich er nur noch ein Schatten seiner selbst ist. Seit seiner Krebsdiagnose vor fünf Jahren zählt Hans-Joachim Obst zu denen, die Hilfe brauchen. Viele Operationen, Chemotherapien und Klinikaufenthalte haben dem 60-Jährigen seit 2015 alles abverlangt. Seine Kraft sei fast aufgebraucht, schätzt der Tornower selbst ein. Ohne die Unterstützung seiner Familie hätte er den Kampf gegen den unbarmherzigen Gegner vielleicht schon aufgegeben, setzt er leise hinzu.

Sterbenskrank

Denn allein die Behördengänge und -kämpfe seien für einen sterbenskranken Krebspatienten wie ihn eine echte Zumutung, echauffiert sich seine Nichte. Aktuell ging es darum, die vom onkologischen Palliativteam verordnete Ergo- und Physiotherapie anzuschieben. „Bei der Ergo hat es schnell geklappt, aber bei den anderen Behandlungen bin ich fast verzweifelt”, erzählt die Göritzerin dem Uckermark Kurier. In vielen Praxen der Umgebung habe sie zu hören bekommen, dass die weite Anfahrt der Hinderungsgrund sei. Bei Hausbesuchen gebe es nur noch eine Pauschale, und in der seien die Kilometer schon drin – egal wie weit der Therapeut dann fahren müsse.

Verständnis für Praxen

Auf der einen Seite kann Franziska Krüger die Praxisinhaber ja verstehen: „Sie müssen wirtschaftlich arbeiten. Aber für einen Kranken wie meinen Onkel ist so eine Antwort der Horror.” Letztlich habe sie durch Zufall eine Adresse in Pasewalk gefunden. „Dort hat man sich bereit erklärt, ihn als Patient zu übernehmen. Der erste freie Termin war allerdings der 28. September”, setzt sie traurig hinzu. Über drei Wochen also noch, die sich der an den Rollstuhl gefesselte Mann allein quälen muss. „Abhängig vom Wetter sind seine Schmerzen manchmal unerträglich”, erzählt seine Mutter, die mit ihrem jüngsten Sohn unter einem Dach lebt. Vor zwei Jahren ist er wegen seines schlechten Gesundheitszustandes in ihre Wohnung runter gezogen. Er schaffte nicht mehr die Treppen nach oben. Sein Pflegebett – bei dem sich Kranken- und Pflegekasse nach Aussagen der Familie seit Monaten schon um die Kostenübernahme streiten – steht jetzt neben ihrem in der Schlafstube.

Schleimhäute verletzt

„So höre ich immer gleich, wenn es ihm schlechter geht”, erklärt die 85-jährige Brigitte Obst. Nach dem letzten Krankenhausaufenthalt vor vier Wochen habe sich sein Zustand weiter verschlimmert, bilanzieren die Angehörigen. Die Chemo sei diesmal wohl so aggressiv gewesen, dass nicht nur alle Schleimhäute verletzt wurden – „ich blute aus Mund und Nase” -, sondern auch die Knochen unaufhörlich weh tun. „Ich kann mittlerweile gar nichts mehr allein machen”, bilanziert der gelernte Melker traurig. Er weiß zwar zu schätzen, dass sich neben seiner Mutter auch seine drei Geschwister und deren Familien rührend um ihn kümmern. „Aber eigentlich will man ja niemandem zur Last fallen”, sagt er nachdenklich. Seine Nichte findet nicht schlimm, dass sie zu den ständigen Kümmerern zählt. „Ich bin schließlich vom Fach.” Aber dass er nicht mal Pflegegeld zur Verfügung habe, sei eine Schande.

Nur Telefonat

„Unser erster Antrag vom März ist sofort abgelehnt worden. Nach einem Telefoninterview meinten die zuständigen Bearbeiter, dass er noch fit genug sei, um sich allein zu versorgen. Angeguckt hat ihn sich wegen der Corona-Auflagen niemand.” Für seine schwer sehbehinderte Mutter, die ihre Umgebung nur noch schemenhaft sieht, ist diese Einschätzung zwar ebenfalls ein Hohn, aber sie mag nicht streiten. „Wenn unser Widerspruch wieder abgelehnt wird, geht die Welt davon nicht unter. Wir beide leben ja sparsam.” Will heißen, die Seniorin stockt die Bezüge ihres Jungen (knapp 700 Euro EU-Rente) mit ihrem Geld auf. „Wir werden nicht verhungern”, sagt die alte Dame pragmatisch. Dafür sorgt unter anderem die Schwägerin aus der Nachbarschaft, die täglich Mittag für die beiden kocht. Ums Frühstück und Abendbrot kümmert sich noch die 85-Jährige selbst. „In Ordnung ist das trotzdem nicht”, beharrt ihre Enkelin: "'Onkel Achi' hat immer geschuftet. Jetzt, wo es ihm schlecht geht, lässt ihn der Staat im Stich. Krank darf man nicht werden.”