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Prenzlauer Zahnärztin

„Wir werden uns viel zu vergeben haben“

Prenzlau / Lesedauer: 8 min

Seit fast zwei Jahren führt Zahnärztin Judith Schmitz ihre Praxis durch Corona. Einschneidende Erfahrungen in dieser Zeit machen sie sehr betroffen.
Veröffentlicht:28.01.2022, 08:37

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Die Prenzlauer Zahnärztin Judith Schmitz (41) stimmt sehr nachdenklich und traurig, was sie und ihr Team seit mittlerweile zwei Jahren im täglichen Kontakt mit Patientinnen und Patienten erfahren. „Unsere Patienten erhalten einen Anamnesebogen, in dem wir einiges erfragen. Mittlerweile nehmen demnach circa 30 Prozent von ihnen Psychopharmaka ein“, schildert die Uckermärkerin nur ein Indiz, dass etwas nicht mehr stimmen kann. Das ziehe sich durch alle Altersgruppen, von jungen Familien, die Zukunftsängste äußern, bis hin zu Rentnern, die an Vereinsamung litten.

Nicht als abstraktes Schlagwort, sondern durchlebt an jedem Tag, in jeder Stunde. Ein schreckliches Gefühl, das ihnen Lebensfreude nimmt. Die empathische Medizinerin und Mutter lassen die Lebensgeschichten und Erlebnisse der Patienten, die diese ihr während der zahnmedizinischen Behandlung anvertrauen, nicht los. Der Redebedarf ist unheimlich groß und hilft vor allem jenen, die sonst niemanden zum Austausch haben. Das Schweigen über Corona ziehe sich mitten durch Familien, durch Partnerschaften. „Da sind ältere Patienten, die ihren Ehepartner durch eine Krebserkrankung verloren haben. Sie kommen einfach nicht darüber hinweg, dass sie ihren Liebsten oder ihre Liebste während der Behandlung nicht besuchen durften, ihnen nicht Lebewohl sagen oder die Hand halten konnten, als es zu Ende ging. Dann kommen die Väter, die den Augenblick der Geburt ihres Kindes nicht miterleben durften. Das alles sind Momente, die sich tief in ihre Seelen eingraben, die sie umtreiben und die sie doch nie wieder nachholen können, die sich nicht heilen lassen“, zeigt sich die Uckermärkerin betrübt über die konkreten Auswirkungen der von Entscheidungsträgern in der Politik verhängten Auflagen, um Corona „zu beherrschen“. Vieles sei dabei verwirrend, werde „verschlimmbessert“ und es verliere sich der Blick auf die fatalen „Nebenwirkungen“.

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Der Preis dafür sei immens hoch und werde das Zusammenleben innerhalb der Gesellschaft nachhaltig verändern. In ihrem Umfeld, so Judith Schmitz, kenne sie immer mehr Ärzte, Pflegekräfte, die resignieren, die in Bürojobs wechseln oder dieses noch vorhaben, da sie es in ihrem Beruf, den sie lieben, dennoch nicht mehr aushalten. Die Unzulänglichkeiten im Gesundheitssystem seien im Schatten der Pandemie noch einmal deutliche geworden, ließen sich nicht mehr kaschieren oder mit schönen Worten weg reden. Doch es passiere kein Sinneswandel. Viele ihrer Berufskollegen fühlten sich ungehört und allein gelassen, resignierten oder hätten Angst vor Konsequenzen und Vorverurteilungen, wenn sie sich öffentlich kritisch äußern. Zerstochene Reifen, das habe es in Prenzlau bereits gegeben. „Anders als Politiker arbeiten wir im unmittelbaren Kontakt mit den Menschen. Wir behandeln dabei zunehmend Patienten, die vor lauter Stress ihre Wangen von innen zerknabbern, Jugendliche, die unbewusst mit den Zähnen knirschen. Wir erleben täglich, wie unsere Patienten dünnhäutiger werden, ihnen Gelassenheit und Freude abhanden kommen.“

Vor Corona hätten sich viele – sie eingeschlossen – schon lange vor dem Urlaub oder einer Familienfeier darauf gefreut. Diese Vorfreude sei abhanden gekommen, ebenso die Lust am Planen, am Gestalten. Alles sei ungewiss, ins Wanken geraten. Selbst jene, die sich haben impfen lassen in der Hoffnung, so ihr freies Leben, das sie vor Corona führten, wieder zu erlangen, seien bitter enttäuscht worden. Die Impfstoffe würden bisher nicht vor einer Übertragung oder Infektion schützen. Dass sie zumindest mehr Schutz vor schweren Verläufen bieten, sei den Geimpften nur zu wünschen. Es kämen aber nicht wenige Patienten in ihrer Praxis, die über verschiedene Nebenwirkungen berichten, einen Schub bei chronischen Vorerkrankungen, einem Kribbeln im Arm, Herzflimmern ...

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„Jedes Serum, auch das, das wir zur zahnmedizinischen Behandlung spritzen, ist nun mal ein dosiertes Gift.“ Dennoch könne sie jeden verstehen, der aus Angst vor einer schweren Erkrankung sich impfen lässt. Sie selbst sei eine Genesene und habe sich so bisher vor dieser Entscheidung „drücken“ können: „Doch warum soll sich jemand, der Angst vor einer Impfung hat, impfen lassen, um weiter arbeiten zu können?“ Was ihre Praxis betrifft, sei ihr ganzes Team entweder geimpft oder genesen. „Wir haben schon lange vor Corona höchste Hygienestandards praktiziert, um unsere Patienten, aber auch uns selbst zu schützen, vor HIV, Hepatitis C und weiteren schlimmen und ansteckenden Krankheiten.“

Das tägliche Testen sei in ihrer Praxis bereits umgesetzt worden, bevor es zur Vorschrift wurde. Allerdings hätte der Preis für 50 OP-Masken vor Corona bei 1,99 Euro gelegen, inzwischen bei rund 15 Euro, Handschuhe seien viermal, Desinfektionsmittel zwei- bis dreimal so teuer geworden. Doch wenn eine ihr bekannte Gerichtsvollzieherin dann berichtet, dass sie sich nach einem anderen Job umsieht, nachdem sie der dritten jungen Familie ihr Haus habe wegnehmen müssen, weil diese nach Kurzarbeit und anderen Einnahmeverlusten nicht mehr die Kreditraten begleichen konnte – obwohl bereits ihre Autos und weiteres verwertbares Inventar verpfändet waren – halte sie es schlichtweg nicht mehr aus.

Viele Lebensträume zerstört

Da würden, neben den seelischen Begleiterscheinungen, seit zwei Jahren so viele Lebensträume und -leistungen zerstört, ohne dass eine nachhaltige Besserung der Situation durch die getroffenen Maßnahmen zu erkennen sei. „Ich möchte nicht in der Haut der Politiker stecken, die in dieser für alle schwierigen Situation Entscheidungen treffen müssen und Verantwortung für deren Auswirkungen tragen. Doch sie beharren aus meiner Sicht auf einem einseitigen oder falschen Ansatz, um das Virus zu stoppen“, schildert die Zahnärztin. Es gebe Beispiele aus – im Vergleich zu Deutschland – weniger entwickelten Ländern, wo alle Coronainfizierten sofort ein Medikamentenpaket bekommen würden und sich aller zwei bis vier Tage in einem eigens eingerichteten Corona-Hospital vorstellen müssen, wo unter anderem Herz und Lunge abgehört werden. „Das verstehe ich unter Medizin. Hier aber gibt es Alleinstehende, die nach einem positiven PCR-Test zwei Wochen in Quarantäne vereinsamten, ohne Kontakt, ohne Nachfragen. Wenn es da keine Familienangehörigen in der Nähe gibt, keine fürsorglichen Nachbarn, ist das kaum auszuhalten. Nicht wenige wählen aus Verzweiflung heraus schließlich die Notrufnummer 112.“

All diese persönlichen Erfahrungen aus ihrem privaten Umfeld und im Kontakt mit den Patienten hätten sie so sehr betrübt, bewegt, dass sie sich unter die Teilnehmer der Montagsspaziergänger mische. Dort sei sie angesprochen worden, ob sie auf einer „parteifreien Versammlung“ reden wolle, was sie am 24. Januar dann auch tat: „Wenn man Angst hat, hilft es nur, miteinander zu reden. Auch wenn ich kein geübter Redner in großer Runde bin, tat es mir hinterher gut – und ich habe viele positive Reaktionen erfahren.“

Auswirkungen der Impfpflicht ungewiss

Wie es für ihre Praxis weitergehen kann, wenn ab Mitte März die vom Bundestag beschlossene Impfpflicht für medizinisches Personal und Pflegepersonal umgesetzt werden sollte, damit beschäftige sie sich im Moment noch nicht. „Wer weiß, was bis dahin gilt, und weiter als zwei Wochen kann doch momentan keiner von uns vorausschauen.“

Sie könne sich zudem bei den momentanen Quarantäne-Ausfällen in Arztpraxen, bei Energieversorgern, in Kitas und Schulen nicht vorstellen, dass der Landkreis, dessen politische Akteure näher im wahren Leben stünden als jene in Berlin, die Impfpflicht für medizinisches Personal – mit allen folgenden Konsequenzen für die Versorgung der Bevölkerung – durchsetze.

Die Behandlung ihrer Patienten stehe für sie und ihr gesamtes Team im Vordergrund: „Wir arbeiten weiter und erfüllen unseren Versorgungsauftrag.“ Das sei auch während des Lockdown so gewesen. Selbst Schmerzpatienten, die sich in Quarantäne befanden, habe sie unter Vollschutz behandelt: „Die Menschlichkeit wird bei uns groß geschrieben – das würde ich mir auch bei jenen wünschen, die zu entscheiden haben.“ Ihr Team, ihre Familie, ihre Tochter und ihr Partner seien ihre persönliche Quelle, aus der sie Kraft schöpfe. Dafür sei sie unendlich dankbar.

Schonungslose Aufarbeitung gefordert

Hoffnungsvoll stimme sie, dass die aktuelle Corona-Variante vor allem die oberen Atemwege betreffe, so sei bei fortschreitender natürlicher Immunisierung zugleich die Hospitalisierungsrate rückläufig: „Wir müssen aus dem angerichteten Chaos herauskommen und werden uns auf allen Seiten nach Corona viel zu vergeben haben.“ Sie hoffe sehr, dass schonungslos über die während Corona zutage getretenen Schwachstellen im Gesundheitssystem diskutiert werde, um die richtigen fachlichen Schlüsse zu ziehen und nachhaltige Weichenstellungen vorzunehmen. „Wir müssen dabei von menschlichen Ansprüchen, vom Patienten aus denken und nicht Zahlen den Vortritt lassen“, sei ihr Wunsch. Dann würden auch viele, die ihren Beruf in der Medizin und in der Pflege als Berufung empfinden, wieder unbelasteter und mit der Zuversicht, ihrem Anspruch und ihrem Ethos unter den gegebenen Bedingungen gerecht werden zu können, ihren Dienst antreten – oder in diesen zurückkehren.